Dialektische Reflexion des Büchleins “Neue Bedeutung”

In der hektischen Vorweihnachtszeit trudelt ein besonderer Umschlag in mein Büro. Markus Turber und Hause Behrendt haben das zweite Büchlein der Intuity Weihnachtserie herausgegeben – eine “Weihnachtskarte” die es in sich hat:

 

New Meaning

Kaum nehme ich das Büchlein in die Hand, klingen die intensiven Worte meines amerikanischen Professors an der UMass Darmouth in meinen Ohren: “Be aware of thin books”. Er sollte auch hier mal wieder Recht behalten…

Lieber Markus, Lieber Hauke,
herzlichen Dank für Eure wertvolle Zeit, mit 16 Thesen die Welt zu bewegen.

Ich habe mich über den machbaren, naiven, unternehmerischen Optimismus gefreut und ich stimme in so vielen Aspekten den Thesen der Autoren zu. Jetzt wäre es nur langweilig, meine Zustimmung in neue Worte auszudrücken – dazu lesen Sie oder Du besser das Werk selbst. Ich möchte vielmehr meine Anti-Thesen für den dialektischen Diskurs beitragen.

Des Pudels Kern “Neue Bedeutung”

So sehr ich mich über den Untertitel “Für einen realistischen Idealismus in einer programmierbaren Welt” gefreut habe, umso mehr habe ich mich über den Titel geärgert: “The New Meaning”. Warum ein Anglizismus in einem deutschem Werk – gibt es da keinen besseren deutschen Begriff? Natürlich gibt es diesen! Markus Turber bringt gleich im Vorwort auf Seite 6 die besten Argumente, warum der englische Titel überhaupt nicht paßt:

„Neue Bedeutung“ – Der Titel dieses Essays ist bewusst doppeldeutig gewählt. „Bedeutung“ kann im Deutschen „Sinn“, aber auch „Wichtigkeit“ meinen. Für Letzteres steht im Lateinischen das Wort „Gravitas“. In diesem Sinne müssen wir den Dingen einen neuen Sinn verleihen und dabei gleichzeitig die notwendige Gravitation erzeugen, um nach und nach alle mitzuziehen.

Auch ohne jetzt eine etymologische Herleitung von “meaning” zu erstellen, wäre es schlichtweg einfacher, den Titel des Buches zu ändern: “Neue Bedeutung” mit “Sinn” und “Wichtigkeit” als Resonanzboden. Dann begeben wir uns als “non-native-english speaker” auch nicht auf das Glatteis zwischen “meaning of life” und “purpose” zu unterscheiden.

Aber wie erzeugen wir nun die Gravitation, “um nach und nach alle mitzuziehen”. Da bleibt unser Buch noch zu wage. Muss es wahrscheinlich auch, weil der Weg oder die vielen Wege noch nicht absehbar sind. Aber dann brauchen Menschen die Sehnsucht zum Aufbruch, der leider durch die graphische oder künstlerische Begleitung auf dem Umschlag oder auf Seite 30 nicht erzeugt wird. Hoppla – wir möchten Menschen begeistern die Gesellschaft und Ihre Umgebung massiv umzubauen. Wo ist hier der Künstler mit dynamisch optimistischen Bildern, der unsere “richtige” Gehirnhälfte in Wallung bringt?

Synthese: Fragen wir die Künstler: Wie verarbeiten Künstler die “Neue Bedeutung” in Ihren Werken, um bei den Betrachtern eine handelnde Bewegung zu erzeugen?

Ich komme gerne zu einer Vernissage mit Bildern, Musik oder anderem adäquaten Medien, unter dem Motto “Neue Bedeutung”. Aber erreichen Künstler heute noch die Menschen? Es reicht nicht, nur die Eliten zu erreichen!

“Komplexität” – nicht des Pudels Kern!

Es zieht sich wie ein roter Faden durch das Büchlein, dass zunehmende Komplexität und die zeitliche Beschleunigung unser großes Problem sind. Das “Komplexitätskarussel” im Kapitel 4 und auch auf Seite 16.

Ich sehe das nur als oberflächliches Symptom, aber nicht als die eigentliche Ursache. In jeder Phase der Veränderung empfinden Menschen diesen Zustand der Überforderung – siehe auch diesen Blog-Beitrag. Das liegt schlichtweg daran, dass wir IN einem System nach alten Mechanismen der Komplexitätsbewältigung leben und gleichzeitig das System verändern, also AM System arbeiten, ohne die neuen Mechanismen der Komplexitätsbewältigung zu kennen, geschweige denn, zu beherrschen.

Anti-these: Die objektiv vorhandene Komplexität war früher genauso hoch wie heute.

Nur dadurch, dass wir vor 100 oder 1.000 Jahren weniger von den komplexen Zusammenhängen z.B. in der Natur, im Weltall oder im menschlichen Körper verstanden haben, als heute, heißt ja nicht, dass diese Komplexität nicht schon vorhanden war. Wenn ich versuche zu verstehen, was in meinem Körper in der letzten Minute während des Schreibens alles passiert ist, dann werde ich die objektiv vorhandene Komplexität von Gedanken zu diesem Thema, Bewegungsabläufen zum Schreiben, Sehen des Geschriebenen im Detail niemals verstehen. Aber für das Schreiben des Textes ist es eben auch nicht relevant. “Ockham’s razor” rät uns ja zum einfachsten Model, das für die relevante Zielstellung geeignet ist.

Die Menschheit hat daher einfache Modelle gefunden, damit im Alltag “komplexitätsreduzierend” umzugehen. Dabei ist es aber wichtig immer zu verstehen, dass die Komplexität selbst nicht verschwindet oder reduziert wird – nur das menschliche Bild, die Möglichkeit darüber zu kommunizieren und ins Handel zu kommen, wird ermöglicht. Ich versuche hier eine Gegenüberstellung von Mechanismen zur “Komplexitätsreduzierung”, die in der Vergangenheit gut funktioniert habe, jetzt aber durch neue ersetzt werden sollten, aufzustellen. Das ist eher eine anekdotische Übersicht:

Alte und Neue Komplexitätsmechanism

alter Erfolgsmechanismus neuer Erfolgsmechanismus
Prinzip der Lokalität, Geltungsbereich einschränken, Abgrenzung, Imperialismus Globalität, Selbstähnlichkeit, Symmetrie, Rekursion
In homogenen Systemen wirken: gleiche Kultur, gleiche Sprache, gleiche Religion, Nationalismus kollektive Intelligenz heterogener Systeme nutzen, weltweiter virtuelle Zusammenarbeit z.B. Open Source via Git
lineare Ursache-Wirkung auf Basis mechanistisches Weltbild Resonanzen, Wahrscheinlichkeiten und Verschränkung auf Basis “Quanten” oder kybernetischen Weltbildes
Nur die Elite arbeitet AM System. Die Masse lebt IM System. Extremform ist der Held. Jeder der willens und fähig ist, arbeitet AM System, um besser IM System zu leben
Überwachung, Zentral Autorität und Vertrauen Transparenz, Dezentrales vertrauen
Wachstum externalisierte Kosten zuordnen
Politische Klassen: links, liberal, rechts Macrons “La République en Marche” aber auch sehr dialektisch “Mouvement des Gilets jaunes”
“Broadcast” Kommunikation: Elite zu Masse Über Internet kann Jeder mit Jedem kommunizieren, Englisch als Lingua Franka, bald kann jeder Mensch auch mit jedem Ding und alle Dinge untereinander kommunizieren
<hier ist noch Raum für weitere> <dito>

 

So sehr wir uns – und insbesondere Populisten – es sich wünschen. Die “alten” Mechanismen sind leider stumpfe Waffen für unsere heutige Probleme, weil die “alten” Probleme oft kurze direkte Rückkoppelungen hatten. Und die neuen Probleme haben einen qualitativ ganz anderen Charakter.

“Früher” ging es um das Überleben des Clans und der Familie. Nach der Renaissance ging es um das Überleben der Nation, des Unternehmens, des Individuums. “Heute” müssen wir uns jetzt leider mit dem Überleben des Menschheit und der Existenz unseres Planeten auseinandersetzten. Warum? Weil der Homo Sapiens in den letzten 100 Jahren die Macht entwickelt hat, alle Menschen, Teile der Natur oder den Planet Erde zu zerstören:

  • Zerstörung der Erde über den “Overkill” mit atomaren, biologischen ggf. auch chemischen Waffen – hoffentlich haben wir den kalten Krieg nicht schon vergessen,
  • Zerstörung des biologischen Ecosystems durch menschliche Überbevölkerung,
  • Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlage durch anthropogenen Klimawandel,
  • Ablösung der “mendelschen” Evolution durch “anthropogenen” Evolution mit CRISPR/Cas9.

Leider sind diese Probleme mit den alten Mechanismen der Komplexitätsbeherrschung nicht lösbar. Aus der Ohnmacht und der praktischen Erfahrung, dass das so ist, nähren sich die Populisten und wollen uns glauben machen, dass wir die alten Mechanismen nur nicht konsequent genug einsetzen.

Synthese: Wir brauchen neue Mechanismen mit der Komplexität umzugehen, die es erlauben, die Existenzprobleme der Menschheit zu lösen.

Dabei fallen viele bewährte und etablierte Mechanismen leider weg z.B. das Lokalitätsprinzip und Imperialismus. Das kann aber ersetzt werden durch Selbstähnlichkeit, Symmetrie und Rekursion: Das Große ist auch im Kleinem auffindbar.  Leider lernen wir heute nicht systematisch, Rekursive Algorithmen zu programmieren, Selbstähnliche Bilder zu zeichnen oder globale Symmetrien in lokalen Daten zu finden. Diese Fähigkeiten sind heute der Elite vorbehalten. Wogegen die Massen den Imperialismus sowohl über die geschichtliche Schulbildung, im Sportverein und im Berufsalltag täglich üben.

Die Autoren sehe es abschießend ähnlich (Kapitel 4, Seite 23), aber nicht in der gleichen Schärfe:

“Wir sehen also, dass hohe Komplexität nichts Schlechtes sein muss – es kommt nur darauf an, den Überblick zu behalten. Die größte Herausforderung ist nicht die Komplexität selbst, sondern die richtige Form, mit ihr umzugehen”

Wie entsteht eine globale Bewegung “Neue Bedeutung”?

Nun gibt es und gab es schon viele Anläufe für den “realistischen Idealismus”. Der bekannteste ist der seit 1968 aktive “Club of Rome” mit der ersten großen Veröffentlichung zum Ende des Wachstumsparadigmas. Wie so viele andere Initiativen bleibt es leider auf der Gedankenspiele- und Wort-Ebene. Eine wirklich handelnden Bewegung ist bisher nicht entstanden. Auch die “Silicon-Valley Philosophie” in “Zero to One: Wie Innovation unsere Gesellschaft rettet” bietet mit private Plattform-Monopolen ohne gesellschaftliche Kontrolle keine wirkliche Alternative. Auch die Ansätze “für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat” finden jenseits der Denkwerkstätten auf keinen handlungsorientierten Boden.

These: Es gilt eine Organisation oder Unternehmung mit einem Geschäftsmodell für die “neue Bedeutung” zu finden.

Geistiges- und Finanz-Kapital gibt es zum Glück im Überfluss. Jetzt fehlt nur der richtige unternehmerische Grundansatz. Darüber möchte ich gerne weiterdiskutieren.

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1 Response to Dialektische Reflexion des Büchleins “Neue Bedeutung”

  1. Hans-Jürgen says:

    I suppose it is now up to me to contribute. However, I haven’t seen the book, and I try to maintain this as a website in the English language. Concerning the book, I will just pick up on what Stefan wrote. Since I know Markus and Stefan well, I feel I can do this. And I stick with English.
    This brings me to the title of the book. “New Meaning” is the better title for the book, be it in German or in English. It is not the “gravity” that is of relevance, it is the intent. Meaning is about having an effect.

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